Bensheim. „Man lernt an diesem Abend, dass selbst im Gewimmel einer sogenannten Völkerwanderung am Ende jeder allein ist. Nicht 80 Millionen Deutsche stehen einer oder zwei Millionen Flüchtlingen gegenüber“, sagt Peter Kümmel, Kritiker der ZEIT und in diesem Jahr zum ersten Mal Juror des Kurt-Hübner-Regiepreises, der am 19. März im Bensheimer Parktheater an Gernot Grünewald verliehen wird. Grünewald erhält den Preis für seine Inszenierung „'anˌ kɔmən – Unbegleitet in Hamburg“ (Thalia Theater Hamburg).
Für Kümmel ist das Entscheidende der Inszenierung die direkte Gegenüberstellung: „Das sogenannte Flüchtlingsdrama ist ein Massenstück. Wir sehen, wie Tausende das Meer überqueren, Grenzzäune überwinden, Erstaufnahmestellen belagern. Die Fliehenden wiederum sehen uns, die Deutschen, als vorbeiziehende Masse der Eingesessenen, die beobachten, helfen oder brüllen.“ Gernot Grünewald hat auf einer Probebühne des Hamburger Thalia Theaters dieses Schema unterlaufen: Aus der Konfrontation der Massen werde eine Konfrontation von Einzelnen. „Bei ihm steht jeweils ein Theaterzuschauer einem Flüchtling gegenüber. Man sieht sich ins Auge, wie man es bei einem Kampf, bei einem Verhör, bei ärztlicher Anamnese tut“, führt Kümmel weiter aus.
In dem biografischen Projekt erzählen Jugendliche aus Somalia, Afghanistan, Pakistan und dem Benin vom Ankommen in Deutschland: radiologische Handwurzeluntersuchung zur Alterseinschätzung, Ämter- und Behördengänge, eine zunächst unverständliche Sprache, die Unsicherheit, ob sie bleiben dürfen. Aus solchen Begegnungen besteht „'anˌ kɔmən“.
Für Kümmel steckt im Titel der Schlüssel zum Stück: „Er bezeichnet eine andauernde Tätigkeit. Geschrieben ist es im Globalsystem der Lautschrift, so wirkt das deutsche Wort wie eine Lebensaufgabe von allen – nicht bloß der Flüchtenden, sondern auch der Sesshaften.“ Alle Flüchtenden an diesem Abend sind Minderjährige, die sich allein auf den Weg gemacht haben. So funktioniert „'anˌ kɔmən“: Der Zuschauer betritt eine Zelle, in welcher der Flüchtling schon ist – der Flüchtling ist der Gastgeber, der Zuschauer ist sein Gast. „Vielleicht ist es tatsächlich so, dass vom Gelingen solcher „Eins-zu-Eins“-Begegnungen am Ende alles abhängt“, sagt Kümmel.
Gernot Grünewald wurde 1978 in Hildesheim geboren, er war als Schauspieler am Staatstheater Stuttgart und dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg engagiert, bevor er 2007 ein Regiestudium an der Hamburger Theaterakademie begann. 2011 wurde er mit dem Hauptpreis beim „Körber Studio Junge Regie“ ausgezeichnet. Grünewald inszeniert unter anderem am Jungen Theater Göttingen, am Schauspielhaus Wien, am Staatstheater Karlsruhe sowie am Theater Heidelberg.
Der Kurt-Hübner-Regiepreis für junge Regisseure ist ein Theaterpreis, der seit 1991 jährlich anlässlich der Vergabe des Gertrud-Eysoldt-Rings in Bensheim verliehen wird. Er ist mit 5.000 Euro dotiert.