Wenn man einen Anruf von seinem 91jährigen Vater bekommt und dieser dabei erzählt, dass er seltsame Blumen, Landschaften und Steine sieht, die gar nicht vorhanden sind, dann läuten zunächst einmal alle Alarmglocken. Mir war schnell klar, dass dieses Phänomen nichts mit seinen Augen zu tun hat, sondern hinter den Augen abläuft. Dies bestätigte dann auch der Augenarzt, den wir schnell aufgesucht haben und der sich ohne Zögern um meinen Vater gekümmert und ihn untersucht hat.
Da nun das Problem kein Augenproblem war, verwies uns der Augenarzt verständlicher Weise an den Hausarzt. Diesen konsultierten wir dann am Nachmittag ebenfalls. Nach einer Blutentnahme, Untersuchung des Blutzuckerspiegels und des Blutdrucks schickte uns dieser wieder nach Hause. Er könne nichts feststellen! Auf meine Frage, ob es nicht sinnvoll sein könnte, mit einer Computertomographie festzustellen, ob im Gehirn etwas vor sich geht, was nicht sein soll, hat mich seine Antwort förmlich umgehauen: „Egal, was da rauskäme, wir könnten sowieso nichts machen!“ Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich anmerken, dass mein Vater trotz des hohen Alters, weder dement, noch kränklich, sondern bei klarem Verstand ist. Das war der Hausarzt allerdings in diesem Moment sicherlich nicht, in dem er mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass so langsam eh alles zu spät sei. Ich halte eine derartige Aussage für erschreckend und das zeugt von einer unsensiblen und kaltschnäuzigen Art, mit Patienten umzugehen, bzw. diese einzuschätzen, die man nicht gut heißen kann.
Da die Halluzinationen auch am nächsten Tag nicht nachließen, versuchte ich einen kurzfristigen Termin bei einem Neurologen zu bekommen. In einer Praxis in der Steubenstraße war mein Vater schon einmal Patient und ich ging davon aus, dass man uns hier bei diesem Problem, bei dem auch das Wort „Schlaganfall“ durchaus beim Arzt gefallen ist, schnell helfen könnte. Doch weit gefehlt. Hier teilte man mir mit, dass mein Vater als „Neupatient“ gilt, da er drei Jahre nicht mehr vorstellig war und daher keinen Termin vor Februar zu bekommen sei. Als Altpatient sei ein kurzfristiger Termin möglich, aber so „leider“ nicht. Ich musste mich sehr zusammen reißen, dass ich am Telefon nicht rabiat wurde. Ich es nicht unfassbar, dass man da einfach in eine Schublade gesteckt wird und da erst mal bleibt, bis man Monate später einen Termin wahrgenommen hat und als aktueller Patient wieder ernst- und wahrgenommen wird? Wo leben wir eigentlich? In drei Monaten könnte mein Vater, wenn es sich um einen Schlaganfall handeln sollte, vielleicht gar nicht mehr leben, wenn sich womöglich ein zweiter dazugesellen würde. Aber das hat die Dame am Telefon natürlich nicht interessiert. Und wohl bemerkt: dabei ging es keineswegs um die Einstufung nach Kassen- oder Privatpatient- naja- vielleicht aber doch...! Weitere zwei Stunden und unzählige weitere vergebliche Anrufe bei anderen Neurologen-Praxen später wurde mir klar: In dieser Welt wird meinem Vater nicht schnell und unkompliziert geholfen. Den Weg ins Krankenhaus scheute ich zunächst, da ich coronabedingt einen Besuch einer Praxis für meinen Vater für risikofreier hielt, als einen Aufenthalt im Krankenhaus, aber wir mussten dann doch die Notaufnahme ansteuern, da es anders nicht möglich war. Im Diakonissenkrankenhaus nahm man sich sofort meinem Vater an, leitete gleich erste bildgebende Untersuchungen ein und nach vier Stunden war klar: Meinem Vater geht es gut- das Gehirn hat keinerlei Schäden.
Es handelt sich wohl um ein seltenes Phänomen, dass manche Menschen mit starker Makula-Degeneration über Halluzinationen klagen, die das Gehirn sich, ob der fehlerhaften Bildinformationen, die es erhält, selbst zusammenbaut.
Nun, diese Diagnose ist kein Todesurteil und auch keine schlimme, wenngleich eine unangenehme Angelegenheit. Aber wie man heute zutage behandelt und abgestempelt wird, wenn man ein Problem (von dessen Harmlosigkeit wir ja zunächst nichts wussten), und ein gewisses Alter aufzuweisen hat, und trotz ansonsten guter geistiger und körperlichen Verfassung, erstmal zum Demenzpatient gemacht wird, ist erschreckend. Die Aussage des Hausarztes, man könne sowieso nichts machen, egal, welche Diagnose bei einer CT heraus käme, halte ich für unhaltbar. Manche sollten sich doch wirklich einmal Gedanken darüber machen, ob sie wirklich den richtigen Beruf aus den richtigen Gründen gewählt haben...
Ein sozialverträgliches Ableben der Menschen im modernen Deutschland kommt wohl nicht nur der Rentenkasse, sondern auch so manch sattem und unmenschlichen Arzt zugute, der sich von alten Menschen und ihren Gebrechen wohl eher gelangweilt fühlt. Das System selbst ist eindeutig krank, aber das liegt auch an den Protagonisten an der Front, die manchmal wohl den Verstand und die Vernunft verlieren. Dank gilt hingegen dem Augenarzt und der Notaufnahme im Diakonissenkrankenhaus, die sich schnell und ohne Diskussionen um einem alten, kranken Menschen gekümmert haben. Schämen sollte sich die neurologische Praxis, die wohl ein Mehrklassensystem etabliert hat und natürlich der Hausarzt, der nicht ganz Herr seiner Worte war...
TH